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WENN ICH FAND, DASS DIE LEHRLINGE SO SCHLECHT UNTERWIESEN WAREN

WENN ICH FAND, DASS DIE LEHRLINGE SO SCHLECHT UNTERWIESEN WAREN / 2019 / BARITON, VIOLINE, CELLO, CEMBALO, ZUSPIELUNG / UA 27.11.2019 / ROBIN GRUNWALD UND DAS MEHR MUSIK! ENSEMBLE / TEXTILMUSEUM AUGSBURG

ETWA ACHT MINUTEN

Wenn ich fand, dass die Lehrlinge ... _ Rabea JoachimMEHR MUSIK! / Robin Grunwald
00:00 / 08:08

Juni 2019, Berlin

Hallo Leopold,

„Mir that es oft sehr leid, wenn ich fand, daß die Lehrlinge so schlecht unterwiesen waren: Daß man nicht nur alles vom ersten Anfange nachholen; sondern viele Mühe anwenden mußte die ihnen beygebrachten, oder wenigstens nachgesehenen Fehler wieder abzuziehen.“

Das haben Sie in der Vorrede Ihrer gründliche(n) Violinschule in „Salzburg, (...) den 26. des Heumonats 1756“ geschrieben.

Daraufhin habe ich einen eigenen Text zu diesem Thema verfasst aus der Sicht eines fiktiven Geigenstudenten, der nicht zum ersten Mal „seine Technik umstellen“ muss, weil sein Lehrer es sagt – und dazu habe ich ein Stück komponiert.


Der Text ist zwar völlig übertrieben, hat aber einen autobiografischen Kern.

Als ich noch ein Kind war und meine Geigenlehrerin wechseln musste, fand die neue Lehrerin alles falsch, was ich bisher gelernt hatte. Zwar klang es sehr gut, was ich machte, und ich hatte damit Erfolg gehabt – aber sie wollte, dass ich nur noch leere Saiten und Etüden spiele, um mir eine neue Technik anzugewöhnen.

Sie war begeisterte Anhängerin einer Methode namens Colourstrings, nach der Anfänger unterrichtet werden. Es tut mir leid: Ihre „gründliche Violinschule“ hat sie (im Gegensatz zu einem späteren Geigenlehrer von mir) nicht erwähnt.

 

Jede Stunde erzählte sie, wie toll diese Methode war und wie gut die Schüler später werden, wenn sie mit dieser Methode anfangen. Ich dachte, ich könnte nie Geigerin werden, weil ich nicht nach dieser Methode angefangen hatte. Und nicht mit drei, sondern mit sechs Jahren. Ich war unendlich traurig, schon in so einem jungen Alter mein Leben „verpfuscht“ zu haben. Trotzdem war ich sehr diszipliniert und habe jeden Tag religiös meine Technik geübt. Meine Lehrerin war ganz begeistert von meinen Fortschritten im Sinne Ihrer Vorstellung von Geigentechnik. Aber seitdem habe ich nie wieder gerne Geige gespielt. Nach ein paar Monaten ist meine Lehrerin nach Finnland gegangen, um dort an einem Institut nur für Colourstrings zu unterrichten. Ich habe dieser Lehrerin so sehr geglaubt, dass ich den nachfolgenden Lehrern misstraut habe, die nicht auf ihre Weise weiter mit mir Technik üben wollten.

Glaubt man so sehr an Colourstrings, weil Gott mittlerweile tot ist?
Wissen Sie, die Individuen und unsere Kultur sind auf eine dauernde Verzauberung angewiesen, um sich vor Dissoziation und Anomie zu schützen...
Hilft Colourstrings auch dann, wenn man nicht dran glaubt?

Was wäre eigentlich, wenn die Geige streiken würde, statt, ohne sich zu wehren, als „Zeug“ zu einem großen Ganzen beizutragen? Wenn sie sich nicht mehr fügte? Oder wenn man sie absichtlich so benutzte, wie sie nicht benutzt werden will, nachdem sie über Jahrhunderte von Instrumentenbauern entwickelt wurde?

Die Musik, die ab der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts komponiert wurde, setzt sich oft mit den Grenzen von Instrumenten auseinander, manchmal bis zu deren physischer Zerstörung.
Es gibt Partituren, die nur selektiv und approximativ realisierbar sind, sie sind musikalische Schlittenfahrten, bei denen auf die physischen und physikalischen Grenzen der Instrumentalisten und Instrumente keine Rücksicht genommen wird. Die vielfach romantisierte Einheit zwischen Instrumenten und Instrumentalisten wurde unter anderem durch so eine Art von Musik aufgebrochen. Dennoch gibt es eine berühmte Geigerin, die auch heute noch erzählt, dass sie als Kind ohne ihre Geige neben dem Bett nicht habe schlafen können. Oder Großeltern, die glauben, die Geige sei eine „Trösterin“ (so kommt es im Stück vor). Beides ist in Ordnung, denn wir befinden uns in der Postmoderne, nachdem wir eigentlich „nie modern gewesen“ sind (Bruno Latour).


Aufführungen des Originals Ihrer musikalischen Schlittenfahrt existieren friedlich neben Diskussionen darüber, ob dieses Werk nicht eine frühe Form von avantgardistischer Publikumsverachtung darstellt.
Das ist doch schön, oder? Nur, was die Geigenschulen betrifft, sind wir noch nicht in der Postmoderne angekommen. Denn neben Colourstrings dürfen andere Schulen und Methoden nicht existieren. Naja, sie dürfen schon, aber sie sind halt falsch, sodass man „alles vom ersten Anfange nachholen“ muss ... ;-)
Sollten Sie etwas nicht verstanden haben, schlagen Sie es doch bitte im beigefügten Colourstrings-Heft nach, ich muss jetzt leere Saiten üben gehen, um mich vor Dissoziation und Anomie zu schützen ...

 

Liebe Grüße

Rabea Joachim

PS: In der Zuspielung hört man einen Geigerzähler, der die Geiger zählt, aus denen auch ohne Colourstrings etwas geworden ist.

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